SAMSTAG, 21. JUNI 2025
ab 09:00 Uhr | Check In
09:30 Uhr, Raum: Alfred-Hessel-Saal (1. OG) | Panel 9: Bewegungsstreit (engl.)
Chair: Marie Fröhlich M.A. (Göttingen)
Moving Forward in Conflict? Cultures of Dispute in Feminist Movements, Dr. Miriam Gutekunst, Dr. Imke Schmincke (München)
Abstract:
Krieg, Flucht und Vertreibung, Kopftuch, Transsexualität und Sex-Arbeit, die Anlässe oder „Triggerpunkte“ (Mau et al. 2024) für innerfeministische Kontroversen sind vielfältig. Feminismen scheinen in der Gegenwart besonders stark von Konflikten und Reibungen geprägt zu sein. Dies ist auch dem Wandel der Öffentlichkeiten sowie einer immer stärkeren Ausdifferenzierung von Positionen und Strömungen sowie der zunehmenden Fragmentierung des Feminismus geschuldet. Doch Frauenbewegungen waren – wie alle emanzipativen Bewegungen – von Beginn an von Reibungen und Konflikten geprägt: durch Machtverhältnisse innerhalb der Bewegung entlang von Rassismen und Klassenunterdrückung, die Komplexität und Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, unterschiedliche Verständnisse von Feminismus, Sexualität und Geschlecht sowie die Frage der politischen Ziele und richtigen Strategien auf dem Weg dorthin. Die Konflikte hinsichtlich der ‚richtigen‘ politischen Praxis oder auch Theorie wurden und werden im Feminismus selbst auch immer reflektiert (z.B. Benhabib et al. 1993; Knapp 2012; Linkerhand 2018). Aber Konflikte waren nicht nur für innerfeministische Dynamiken bestimmend. Darüber hinaus stellt Konflikt eine zentrale Ausgangsbedingung für soziale Bewegungen dar, wie die soziale Bewegungsforschung hervorhebt (Rucht 2021). Konflikte können also auch zur Ressource und Streit konstruktiv genutzt werden. In unserem Vortrag wollen wir mit Bezug auf feministische Bewegungen nicht nur ausloten, wie (inner-)feministische Konflikte und Kontroversen entstehen, sondern auch, welche Umgangsweisen damit produktive und welche destruktive Dynamiken entfalten. Dabei interessiert uns besonders herauszufinden, inwiefern es eine spezifisch feministische Streitkultur gibt bzw. inwiefern Konflikte konstitutiv im Feminismus angelegt sind und ob und wie sich diese im Laufe der Jahre verändert haben. Diese Fragen wollen wir jeweils mit Blick auf unsere jeweiligen empirischen Forschungsprojekte beantworten. Imke Schmincke beschäftigt sich in einer Interviewstudie mit älteren und jüngeren feministischen Aktivistinnen mit der Frage des Wandels von Frauenbewegung/Feminismus. Miriam Gutekunst wird in diesem Vortrag mit empirischem Material aus ihrem Projekt „Ambivalentes Geschlechterwissen: Aushandlungen kultureller Differenz in feministischen Initiativen der postmigrantischen Gesellschaft“ (DFG) arbeiten. Mit Fokus auf unsere unterschiedlichen Projekte wollen wir herausarbeiten, wie Differenzen in feministischen Kontexten thematisiert, problematisiert und gedeutet werden (z.B. Generationen, Akademisierung etc.). Wir fragen danach, wie Differenzen mit Konfliktdynamiken zusammenhängen und welche Folgen sich in der Praxis beobachten lassen (Abbruch von Gesprächen, Abgrenzungen und Spaltungen, aber auch Solidarisierungen, neue Bündnispolitiken etc.).
Biographische Notiz:
Miriam Gutekunst ist Postdoc-Mitarbeiterin am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München. Sie forscht seit vielen Jahren ethnographisch zu Grenzziehungsprozessen und Machtverhältnissen in postmigrantischen Gesellschaften. Im Rahmen ihres Promotionsprojekts beforschte sie in Marokko am Beispiel des „Familiennachzugs“ die konflikthafte Umsetzung europäischer Migrationspolitik.
Imke Schmincke ist Soziologin; sie hat in Hamburg und Brighton/GB studiert und 2008 an der Uni Hamburg mit einer Arbeit zu Körper, Raum und Marginalisierung promoviert. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. seit 2014 Akademische Rätin am Institut für Soziologie der LMU München am Lehrbereich Gender Studies.
Literatur
Benhabib, Seyla/Butler, Judith/Cornell, Drucilla/Fraser, Nance (1993): Der Streit um die Di erenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Fischer.
Knapp, Gudrun-Axeli (2012): Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung. Wiesbaden: VS Verlag.
Linkerhand, Koschka (Hg.) (2018): Feministisch Streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen. Berlin: Querverlag.
Mau, Ste en/Lux, Thomas/Westheuser, Linus (2024): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
Rucht, Dieter (2021): Neue Konflikte und neue soziale Bewegungen in Deutschland, In: Grande, Brigitte Grande, Edgar Hahn, Udo (Ed.): Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland: Aufbrüche, Umbrüche, Ausblicke. Bielefeld: transcript, S. 61-77.
Knapp, Gudrun-Axeli (2012): Im Widerstreit. Feministische Theorie in Bewegung. Wiesbaden: VS Verlag.
Linkerhand, Koschka (Hg.) (2018): Feministisch Streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen. Berlin: Querverlag.
Mau, Ste en/Lux, Thomas/Westheuser, Linus (2024): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp.
Rucht, Dieter (2021): Neue Konflikte und neue soziale Bewegungen in Deutschland, In: Grande, Brigitte Grande, Edgar Hahn, Udo (Ed.): Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland: Aufbrüche, Umbrüche, Ausblicke. Bielefeld: transcript, S. 61-77.
Queer activism as future practice: Productive frictions and transformative utopias in times of crisis, Sascha Sistenich M.A. (Bonn)
Abstract:
Alternative futures are of particular importance in times of global uncertainty in order to counter multiple crises and maintain hope for a better future. Following Sherry Ortner's (2016) concept of dark anthropology as an approach to anthropological theory production, this article will focus on the social transformation potential of utopian (Muñoz 2009) and speculative (Bryant and Knight 2019; Cortiel et al. 2020) moments. It asks about the realisations and materialisations of utopias and how these can counteract current crises through activist prefigurations in the mirror of queer movement history. The contribution draws on data collected since 2022 from my dissertation project, in which I use an activist, engaged ethnography in major West German cities to investigate how queer people prefigure ideas of care and solidarity in their everyday worlds characterised by activism and negotiate them in interpersonal and more-than-human relationships and political activism. The research shows how practices of collective care and solidarity form new, transformative arrangements and unexpected alliances, but also dissolve them (Binder and Hess 2019). Particular attention is paid to the vulnerability of people and the fragility of social structures, some of which are life-sustaining (cf. Bayramoğlu and Castro Varela 2021). At the same time, this reveals the need for new practices of solidarity in a cohabitation of a community of the unchosen characterised by plurality, as formulated by Judith Butler (2022) and Sabine Hark (2021). The contribution shows the fragmentation of sometimes conflicting interests, knowledge bases, needs and the resulting activisms (cf. Gutekunst 2021; Gutekunst and Hess 2023). In doing so, it focuses on negotiations between individual needs, neoliberal paradigms of responsibility and collective solidarity and the resulting designs for the future in queer everyday worlds, instead of placing identity-political lines of conflict and social structures of discrimination and marginalisation at the centre of the research interest, contrary to many queer theoretical works.
Biographische Notiz:
Sascha Sistenich studied Transcultural Studies/Cultural Anthropology and Multilingual Communication at the TH Köln, Universidad de Granada (2014-2018) and the University of Bonn (2018-2021). He works as a research assistant at the Department of Cultural Analysis and Cultural Anthropology and at the Department of Anthropology of the Americas at the University of Bonn. Since 2022 he works on his doctorate on queer activism and queer utopias and future designs of a solidary-caring coexistence.
Literatur
Bayramoğlu, Yener; Castro Varela, María do Mar (2021): Post/pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität. Bielefeld: transcript (X-Texte zu Kultur und Gesellschaft). Online verfügbar unter https://www.degruyter.com/isbn/9783839459386.
Binder, Beate; Hess, Sabine (2018): Politiken der Für_Sorge - Für_Sorge als Politik: Einige einleitende Überlegungen. In: Beate Binder (Hg.): Care: Praktiken und Politiken der Fürsorge. Ethnographische und geschlechtertheoretische Perspektiven. 1. Auflage. Leverkusen: Budrich Barbara, S. 9–32.
Bryant, Rebecca; Knight, Daniel M. (2019): The Anthropology of the Future. 1st ed. Cambridge: Cambridge University Press (New departures in anthropology). Online verfügbar unter https://www.cambridge.org/core/product/identifier/9781108378277/type/BOOK.
Butler, Judith (2022): From the Critique of Identity to an Ethics of Plurality: Sabine Hark's Collaborative Vision. In: Hannah Fitsch (Hg.): Der Welt eine neue Wirklichkeit geben. Feministische und queertheoretische Interventionen. Bielefeld: transcript (Gender Studies), S. 45–54.
Cortiel, Jeanne; Hanke, Christine; Hutta, Jan Simon; Milburn, Colin (2020): Practices of speculation. Modeling, embodiment, figuration. Bielefeld: transcript (Culture & theory, volume 202).
Gutekunst, Miriam (2021): Im Namen der Frauen? Umkämpftes Wissen im gegenwärtigen Engagement gegen sexualisierte Gewalt. In: hjk 13, S. 190–201. Online verfügbar unter https://journals.sub.uni-hamburg.de/hjk/article/view/1734.
Gutekunst, Miriam; Hess, Sabine (2023): Politics of Reversal. Unter Mitarbeit von Humboldt Universität Zu Berlin.
Hark, Sabine (2021): Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation: ein Essay. Berlin: Suhrkamp. Online verfügbar unter http://www.content select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783518770474.
Muñoz, José Esteban (2009): Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity. New York, London: New York University Press (Sexual cultures).
Ortner, Sherry B. (2016): Dark anthropology and its others. In: HAU: Journal of Ethnographic Theory 6 (1), S. 47–73. DOI: 10.14318/hau6.1.004.
Binder, Beate; Hess, Sabine (2018): Politiken der Für_Sorge - Für_Sorge als Politik: Einige einleitende Überlegungen. In: Beate Binder (Hg.): Care: Praktiken und Politiken der Fürsorge. Ethnographische und geschlechtertheoretische Perspektiven. 1. Auflage. Leverkusen: Budrich Barbara, S. 9–32.
Bryant, Rebecca; Knight, Daniel M. (2019): The Anthropology of the Future. 1st ed. Cambridge: Cambridge University Press (New departures in anthropology). Online verfügbar unter https://www.cambridge.org/core/product/identifier/9781108378277/type/BOOK.
Butler, Judith (2022): From the Critique of Identity to an Ethics of Plurality: Sabine Hark's Collaborative Vision. In: Hannah Fitsch (Hg.): Der Welt eine neue Wirklichkeit geben. Feministische und queertheoretische Interventionen. Bielefeld: transcript (Gender Studies), S. 45–54.
Cortiel, Jeanne; Hanke, Christine; Hutta, Jan Simon; Milburn, Colin (2020): Practices of speculation. Modeling, embodiment, figuration. Bielefeld: transcript (Culture & theory, volume 202).
Gutekunst, Miriam (2021): Im Namen der Frauen? Umkämpftes Wissen im gegenwärtigen Engagement gegen sexualisierte Gewalt. In: hjk 13, S. 190–201. Online verfügbar unter https://journals.sub.uni-hamburg.de/hjk/article/view/1734.
Gutekunst, Miriam; Hess, Sabine (2023): Politics of Reversal. Unter Mitarbeit von Humboldt Universität Zu Berlin.
Hark, Sabine (2021): Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation: ein Essay. Berlin: Suhrkamp. Online verfügbar unter http://www.content select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783518770474.
Muñoz, José Esteban (2009): Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity. New York, London: New York University Press (Sexual cultures).
Ortner, Sherry B. (2016): Dark anthropology and its others. In: HAU: Journal of Ethnographic Theory 6 (1), S. 47–73. DOI: 10.14318/hau6.1.004.
Comradeship or Sorority? Gendered Frictions in Mexico City’s Urban-Popular Movement (1975 - 1989), Prof. Dr. Anabel Yahuitl Garcia (Mexiko-City, Mexiko)
Abstract:
The urban-popular movement (UPM) in Mexico represents one of the most enduring struggles for social justice in the country’s contemporary history. Emerging amidst the Mexican “dirty war” (1960s-1980s), rural-to-urban migration, and a nascent feminist movement, the UPM sought to construct dignified living conditions across impoverished urban centers. Within this collective action, tensions between comradeship and sorority —concepts that reflect contrasting approaches to solidarity— shaped its internal dynamics. While the UPM unified diverse efforts, scholarship from the 1980s largely focused on its ideological characterization or the contributions of prominent male leaders. Only by the 1990s did feminist academics begin documenting women’s pivotal, though often overlooked, roles. This paper examines gendered frictions within the UPM through a case study of Unión, an organization founded in 1975 that continues to operate today. I analyze how dissent within Unión was shaped by competing gendered conceptions of class struggle and political action. Women’s political initiatives —frequently dismissed by male counterparts as peripheral— revealed the androcentric underpinnings of the UPM’s emancipatory discourse. The homosocial dynamics among male leaders not only excluded women but also cemented patriarchal hierarchies that defined what counted as legitimate political participation. Despite these barriers, feminists working in popular boroughs during the 1980s catalyzed change through consciousness-raising workshops. These efforts inspired women to self-organize within the UPM while striving to integrate feminist goals with predominant class-based agendas. This dual ambition —harmonizing feminist priorities with the UPM’s traditional focus on class struggles— expanded the movement’s scope to encompass education, health, food security, and environmental justice. However, the UPM’s patriarchal organizational principles limited its ability to evolve into a truly diversified political force. Revisiting the history of the UPM from a feminist perspective reveals how comradeship and sorority operated as conflicting frameworks of solidarity. It also highlights the enduring gendered frictions within collective struggles, providing historical and ethnographic insights into the challenges contemporary social movements face in addressing intersecting oppressions.
Biographische Notiz:
Associate Professor of Anthropology at El Colegio de Michoacán, Mexico (CEA-COLMICH). Her research explores the construction of subjectivities in contexts of prostitution and gendered violence, the gendered dynamics of the Urban Popular Movement (1970-1990), and the organizing efforts of indigenous domestic workers in Mexico City. Her academic interests include feminist knowledge production within social struggles in 20th-century Latin America, gender violence and femicide in Mexico, Latin American feminist theories, social reproduction theory, and care/work policy-making. Additionally, she has worked as a freelance editor and consultant on sexual and reproductive health, rights, and justice across Latin America and the Caribbean.
The "hypothetical concert" and the infiltration of "gendered fights" into the ethnographic text, Dr. Reza Bayat (Göttingen)
Abstract:
On 12 December 2024, a video of an Iranian woman, Parastoo Ahmadi, singing live with a professional band in one of the historic caravansaries in the middle of an Iranian desert went viral. She called the performance a "hypothetical concert" as there was no "present" audience due to the ban on "women's voices" in Iran. She performed without hijab, in high heels and a black dress that didn't comply with the "dress code" imposed by the authorities. In the official and governmental discourse, which gives a specific and narrow definition of "the people", the act of removing the hijab and singing by a woman is not only against the law, it also "hurts people's feelings". The video was posted on her YouTube account and carries a clear political message against the banning of women's voices and bodies. Despite the filtering of YouTube in Iran, the video was viewed over 1 million times only in one day, and many more on other social media networks. She was arrested a few days after the concert and is still awaiting the "promised consequences" for "hurting people's feelings". Like other significant events in contemporary Iran, this brought the frictions of the fragmented Iranian society and its even more fragmented diaspora (Khosravi, 2018) back to the surface. By centralizing the poetics and politics of this hypothetical concert and allowing it to fold the text, this paper aims to unfold the fractures in the fragmented society and its diaspora that reappear like "unhealed wounds" every time after such an event. Furthermore, this paper attempts to show how these fractures are to be reflected through fragmented ethnographic texts, whose pieces come to constant friction; and struggle to make sense of such events.
Biographische Notiz:
Reza Bayat is a research associate at the Center for Global Migration Studies (CeMig). He completed his PhD thesis at the Institute of Cultural Anthropology / European Ethnology at the University of Göttingen. His research interests include migration and ethnographic (border) regime research, health, trauma, narrative research, body and emotions.Currently, he is conducting a new research project with the title “Accessibility as politics of life: A multi-level analysis of migration-related and regime-building policies in the German health care system” as part of the research group „Public Health and migration from a global and interdisciplinary perspective“ at CeMig.
09:30 Uhr, Raum: Vortragsraum (1. OG) | Panel 10: Gesellschaftliche Verwerfungen entlang von Geschlecht und Sexualität
Chair: Prof. Dr. Regina Bendix (Göttingen)
„Nicht mein Pluralismus!" Zur Vermittlung antagonistischer Erfahrung, Dr. Martina Röthl (Kiel)
Abstract:
Der Beitrag setzt bei Ergebnissen meines derzeit verfolgten Forschungsprojektes Geschlechterwissen: Vermittlungsebenen und ihre Akteur*innen (DFG – 499575546) an, das Engagements von auf unterschiedlichen Ebenen mit Vermittlung von Geschlechterwissen befasster Akteur:innen fokussiert. Die Forschungspartner:innen, mit denen in bislang zehn empirisch-ethnographischen Settings zusammengearbeitet wird, um von ihnen angestoßene Wissenstransfers zu beleuchten, beschreiben sich als in Kämpfe um Deutungshoheiten Involvierte und z. T. als explizit aktivistisch. Ihre Engagements haben jeweils mit bereits getroffenen Entscheidungen zu tun, an Transformationen bestehender Verhältnisse mitzuwirken. Ihre Arbeit sehen sie als an Konfliktlinien verortet, wie der Call zur Tagung sie umriss. Verwerfungen haben sich seit dessen Aussendung noch einmal erheblich verschärft. Aktuelle Entwicklungen einbeziehend und den Fokus maßgeblich auf Vermittlungsformen richtend, die zwecks Affizierung und Mobilisierung auf die Vermittlung antagonistischer Erfahrung setzen, versucht der Beitrag folgende Frage-Bündel mitzunehmen:
Inwieweit schlagen sich durch Veränderungen realpolitischer Verhältnisse bereits in Gang gesetzte Diskursverschiebungen auf Fragen legitimer Vermittlungsinhalte nieder sowie auf Förder- und Verteilungslogiken – und kann dies in der Verknüpfung womöglich doppelt normierend wirken (‚profitable Ignoranz‘, neue Kompliz:innenschaften)?
Wie lässt sich mit den rezipient:innenseitigen Begehren nach klaren Deutungsangeboten umgehen, die Feldpartner:innen vielfach beobachten und als ursächlich für realpolitische Bestrebungen beschreiben, mit möglichst einfachen Lösungsofferten aufzuwarten? (Wie) Können dahingehende Erwartungen in hochkompetitiven Arbeitsumfeldern (‚kreative Szenen‘) enttäuscht, ignoriert oder umgangen werden?
Inwieweit gehen auf Emotionalität und Empathie setzende Vermittlungs-tools mit der Gefahr einher, Problematisierungen auf individuelle Ebenen zu verschieben bzw. dort festzuschreiben? Und: Ist die Vermittlung antagonistischer Erfahrung nicht per se auf Eindeutigkeit, zumindest die Eindeutigkeit je möglicher Positionen, angewiesen?
Biographische Notiz:
Martina Röthl, verortet am Seminar für Europäische Ethnologie/Volkskunde der CAU Kiel, leitet das DFG-Forschungsprojekt Geschlechterwissen: Vermittlungsebenen und ihre Akteur*innen sowie auch das Wissenschaftliche Netzwerk Erfahrung als Forschungsperspektive Kulturanalytische Relationierungen (zusammen mit Barbara Sieferle). Promotion 2015 an der LFU Innsbruck (im DOC-Programm der Österreichischen Akademie der Wissenschaften); 2016–2021: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Europäische Ethnologie/CAU; 2022/23: Habilitationsstipendium der Philosophischen Fakultät der CAU Kiel, Professorinnenprogramm III von Bund und Ländern. 2nd Book: SCHAUPLATZ GESCHLECHTER-FRONT: Antagonistische Konstellationen, epistemische Interaktionen, Subjektivierungspotenziale (Projekt abgeschlossen, Publikation in Ausarbeitung). Forschungsschwerpunkte: Diskurs- und Dispositivforschung; Geschlechterforschung (Wissenstransfers/Geschlecht & Konflikt); Erfahrungskonzepte; Subjektivierungsforschung
Reibungen unter Freund*innen. Beziehungspraktiken angesichts politischer Uneinigkeit, Dr. Laura Gozzer (München)
Abstract:
Freund*innenschaft und emotional-zwischenmenschliche Verbundenheit sind gegenwärtig zentrale Themen in feministischen Entwürfen einer gerechteren und besseren Gesellschaft (vgl. Schutzbach 2024, do Mar Castro Varela/Oghalai 2023). Doch was geschieht in jenen Freund*innenschaften, die keine politische Passung versprechen? Schließlich verläuft die Verbindung von Freund*innenschaft mit utopischen Gesellschaftsentwürfen parallel zur Gefährdung von Freund*innenschaften aufgrund politischer Differenzen (z.B. Machowecz 2024). Wie wirkt sich politische Polarisierung rund um Themen wie Migration, Geschlechtergerechtigkeit und Klimawandel auf freund*innenschaftliche Beziehungen aus, die auf Idealen der Passung, Unterstützung und Freiwilligkeit aufbauen? Während Ehe und Familie aus feministischer Perspektive bereits tiefgreifend und kritisch untersucht wurden, steht die Forschung zu Freund*innenschaft noch am Anfang. Neben den politischen Plädoyers für feministische Freund*innenschaften als Beziehungen des Empowerments sind differenzierte, ethnografische Einblicke in dieses Beziehungsmodell, in die konkrete Alltagspraxis von Freund*innenschaft, von größter Relevanz. Der Beitrag rückt die Erfahrungen (ehemaliger) Freund*innen ins Zentrum und fragt nach deren Umgangsweisen mit und Haltungen zu politischen Reibungen mit Freund*innen.
Biographische Notiz:
Akademische Rätin a.Z. am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der LMU München. Nach der Promotion zu ehrenamtlichen Pat*innen entwickele ich derzeit ein Forschungsprojekt zur kulturellen Logik des Beziehungsmodells „Freund*innenschaft“ im Kontext biografischer Umbrüche, politischer Polarisierung und populärkultureller Verarbeitung.
Literatur
do Mar Castro Varela, María; Oghalai, Bahar (2023): Freund*innenschaft. Dreiklang einer politischen Praxis (= re-sistance & desire, Bd. 3). Münster.
Schutzbach, Franziska (2024): Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert. München.
Machowecz, Martin (2024): Wenn Politik Freundschaften zerstört. In: ZEIT Nr. 37/2024. URL: https://www.zeit.de/2024/37/freundschaften-politik-schule-jugendliche-kommunikation (Zugriff: 15.11.24).
Schutzbach, Franziska (2024): Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert. München.
Machowecz, Martin (2024): Wenn Politik Freundschaften zerstört. In: ZEIT Nr. 37/2024. URL: https://www.zeit.de/2024/37/freundschaften-politik-schule-jugendliche-kommunikation (Zugriff: 15.11.24).
One spot stains the whole dress? Pädophilie als Selbstbegrenzung genderqueerer Theorie. Oder: Ein Aufruf zur Reibung, Dr. des. Folke Brodersen (Kiel)
Abstract:
Pädophilie. Ein Begriff, der Diskursexplosionen erwarten lässt und Schreckensbilder aufruft – vom weißen Van vor der Grundschule bis zum Campingplatz in Lügde, von der Gründungszeit der Grünen bis zur ‚Frühsexualisierung‘. Ein Begriff der aufregt und verstört. Und einer, den Gender und Queer Studies vielfach meiden. Mit meinem Beitrag möchte ich nach den Möglichkeiten und Bedingungen für die Thematisierung der Pädophilie in Gender und Queer Studies fragen. Dafür stütze ich mich auf meinen Forschungsprozess zur gegenwärtigen Vergesellschaftung der pädophilen Selbstkontrolle und Selbstbestimmung. Dabei wird deutlich: Pädophilie hat in institutionalisierter Politik, Medien, feministischen und queeren Bewegungen wie auch Wissenschaft weiter den Status des Abjekts inne. Sie gilt als unbesprechbar – und wenn sie doch zum Thema wird, ruft sie Irritation und Abwehr hervor.
Biographische Notiz:
Folke Brodersen ist wiss. Mitarbeiter*in am Arbeitsbereich 'Gender & Diversity Studies' (CAU Kiel). They forscht und lehrt zu Gender und Queer Theory, Psychopolitiken, empirischer Subjektivierungsforschung und queerer Jugendarbeit. Folke verteidigte 2023 die Dissertation zum Verhältnis sexueller Selbstbestimmung und sexueller Kontrolle im Kontext primärpräventiver Therapie für Pädophile. Aktuell arbeitet Folke an Fördermittelanträgen zu den Themenfeldern Queere Jugendarbeit, Peer-to-Peer trans*Beratung, Neurodiversität und Multipler Identität.
Geschlechterkonflikte in Messenger-Diensten: „Wir befinden uns in einem Prozess, in dem (noch) nicht alles reibungsfrei verläuft“, Sarah Sandelbaum, M.A. (Frankfurt am Main)
Abstract:
Gesellschaftliche Konflikte um körperliche Selbstbestimmung stellen gegenwärtig einen zentralen „Geschlechterkonflikt“ (vgl. Lenz 2013, 2018) dar: Nicht nur konservativ-christliche und rechte bis rechtsextreme Akteure mobilisieren in der Öffentlichkeit gegen queere Menschen, auch feministische Bewegungskontexte sind gekennzeichnet durch transfeindliche Einstellungen. In meinem Promotionsprojekt „Körperkonflikte in queer/feministischen Kontexten“ untersuche ich, wie im Alltag von Frauen und queeren Menschen sowie innerhalb feministischer Bewegungskontexte Konflikte um den Geschlechtskörper emotional ausgetragen werden. Davon ausgehend möchte ich in meinem Vortrag vorstellen, wie ich Konflikte um die Kategorie Geschlecht in feministischen Kontexten anhand von Gruppenchats in Messenger-Diensten aus einer affekt-/praxissoziologischen Perspektive beforsche. Um Konflikte zu untersuchen, greife ich theoretisch u.a. auf Sara Ahmeds Affekttheorie zurück. Insbesondere in ihrer frühen Arbeit Strange Encounters: Embodied Others in Post-Coloniality (2000) entwickelt Ahmed ein Konzept der Differenz als verkörpernde Praxis der Differenzierung, das sich für ein „postidentitäres Verständnis von Konflikten“ (Lenz 2018: 215) fruchtbar machen lässt. Dadurch können Prozesse und Handlungen fokussiert werden, die Identitäten bzw. Positionierungen und deren Beziehung affektiv-materiell hervorbringen (vgl. ebd.: 213). Auch sind Ahmeds Überlegungen zu „strange encounters“ hilfreich, weil sie „Begegnungen“ als ambivalent versteht: nicht nur als Ausdruck von (antagonistischen) Gegensätzen, sondern auch als Möglichkeit der Überraschung.
Biographische Notiz:
Sarah Sandelbaum (sie/kein) lehrt und forscht zu Soziologien des Körpers, materialistischen Feminismen, Affekttheorien und queer/feministischen sowie dekolonialen Epistemologien an der Goethe-Universität Frankfurt.
11:30 Uhr | Pause mit Imbiss
11:45 Uhr, Raum: Alfred-Hessel-Saal (1. OG) | Round Table: "Attacks on Academic Freedom" (engl.)
Moderation: Prof. Dr. Sabine Hess (Göttingen)
Discussants: Prof. Dr. Cory W. Thorne Gutiérrez (Newfoundland & Labrador, Canada/Göttingen), Ass. Prof. Dr. Aslı Zengin (New Jersey, USA), Prof. Dr. Beate Binder (Berlin)
13:00 Uhr, Raum: Alfred-Hessel-Saal (1. OG) | Konferenzabschluss
Teilnehmende: Dr. Alik Mazukatow (Lübeck), Ass.-Prof. Dr. Marion Näser-Lather (Innsbruck) und Dr. Corinna Schmechel (Göttingen)
Ausschnitte aus der Ausstellung "50 Jahre queere Geschichte in Göttingen" werden in Kooperation mit dem Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen am Tagungsort ausgestellt.